Diskriminierungserfahrungen: Realität für Menschen mit Behinderungen

Rubrik im Magazin LEBENSSTARK der Muskelgesellschaft

Saphir Ben Dakon verfasste in der Rubrik Fachwissen einen Beitrag zum Thema Diskriminierung. Die Illustration von Diskriminierung fand am Beispiel des Sprachgebrauchs der Förderklasseninitative im Kanton Zürich statt. Der Text und ein dazugehöriges PDF finden sich nachfolgend.

DISKRIMINIERUNGSERFAHRUNGEN: REALITÄT FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN

Für den Diskriminierungsschutz wird in der Schweiz wenig getan. Warum? Die Debatte um
den Schutz wird hoch diskriminierend geführt und hat oft nur – eine weitere – Ausgrenzung
von Menschen mit Behinderungen zum Ziel.

Seit jeher höre ich, dass Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung geschützt werden müssen. Konkret unternommen wird in Sachen Diskriminierungsschutzherzlich  wenig. Vor Diskriminierung kann man sich aber nur bedingt selbst schützen. Sie findet zwar in der eigenen Lebensrealität statt, ist aber systemisch in der Gesellschaft und in ihren Institutionen wie Schulen, Gemeinden oder Spitälern verankert.

Schutz als Vorwand für Diskriminierung

Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bezeichnet man als Ableismus. Dieser nutzt einen fiktiven «Normalstandard» als Legitimation für Ausgrenzung. Diskriminierung geschieht also nicht einfach in einem Vakuum, diskriminiert wird aktiv und in allen Lebensbereichen. Oft passiert sie sogar mit der Begründung, Menschen mit Behinderungen schützen zu wollen. Dieser Mechanismus lässt sich in der aktuellen Debatte um die Förderklasseninitiative beobachten.

Beschönigung von Ausgrenzung

Der packende Slogan «Fördern statt überfordern. Für eine Schule mit Zukunft» wirbt für die Initiative, die Kin-
der durch ihre Platzierung in Förderklassen vor Überforderung bewahren will. Angeblich will man so ihren Bedürfnissen gerecht werden. Warum diese Argumenta- tion ableistisch ist, liegt auf der Hand. Die Lösung für das überforderte System ist es, Kinder mit Behinderungen getrennt zu unterrichten, damit die anderen Kinder «nicht auf der Strecke bleiben» und «das Experiment der schulischen Integration» nicht «auf dem Buckel aller» durchgeführt wird. Kinder mit Behinderungen werden als Störfaktor dargestellt: Man könnte meinen, ohne sie wären die Herausforderungen des Systems Schule schon fast gelöst. Sind sie natürlich nicht.

Tendenziöse Sprache

Die Wortwahl erweckt den Eindruck, als würden nicht-behinderte Personen benachteiligt. Die Erfahrungen behinderter und nicht-behinderter Kinder in Bezug auf Behinderungen und Diskriminierung werden fälschlicherweise gleichgestellt. Zudem wird mit der Angst nicht-behinderter Menschen vor Menschen mit Behinderungen gearbeitet, indem behauptet wird, dass Menschen mit Behinderungen jene ohne Behinderungen allein durch ihre Anwesenheit im gleichen Raum an der Ausübung ihrer Rechte hindern würden.

Bewusstes Weglassen?

Mit keinem einzigen Wort wird erwähnt, dass das inklusive Bildungssystem eine Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist und daher durch die Schweiz umgesetzt werden muss. Auch nicht zur Sprache kommen die konkreten systemischen Anpassungen, die
gemacht werden müssen, damit eine wirklich inklusive Schule funktionieren kann. Kurzum: Die Schule der Zukunft soll ohne die gleichgestellte Teilhabe von Kindern mit Behinderungen stattfinden.

Wie können wir uns selbst schützen?

Betroffenen Menschen wird oft gespiegelt, dass Diskriminierungserfahrungen das Ergebnis des eigenen Handelns sind. Dies ist offensichtlich falsch. Trotzdem ist die Voraussetzung für Selbstbestimmung das Handeln. Was also können wir tun? Es besteht die Möglichkeit, an unserer Resilienz – an unserer Abwehr – zu arbeiten. Dazu ist es sinnvoll, sich mit Menschen zu umgeben, die sensibilisiert gegenüber Diskriminierung sind. Ein Stück Selbstbestimmung können wir uns erkämpfen, indem wir uns vernetzen und für die Umsetzung der UN-BRK einsetzen. Diese Vorschläge mögen uns keinen umfassenden Schutz vor Diskriminierungserfahrungen bieten, allerdings erhöhen sie die Chance, dass wir in unserem – selbstgewählten und selbstbestimmten – Sinne mit ihnen umgehen können. Eine Übergangslösung, bis die Gesamtgesellschaft Diskriminierungen aktiv entgegenwirkt.

Zur Autorin

SAPHIR BEN DAKON ist Inklusions- und Kommunikationsexpertin aus Zürich. Mit ihrem Unternehmen begleitet sie Organisationen bei der Umsetzung von Inklusionsprozessen. Saphir hält einen Bachelor of Science (BSc) in Unternehmenskommunikation und einen Master of Science (MSc) in Business Administration. Als Vizepräsidentin von Agile, dem Schweizer Dachverband der Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisa-
tionen von Menschen mit Behinderungen, engagiert sie sich besonders für die Themen Arbeit, Bildung, Empowerment und Partizipation. Dabei fokussiert sie auf die Schnittstellen von Behinderung, Geschlecht und Migrationsgeschichten.

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